Als die laufenden Chöre zu Weihnachten sangen Vom Liedersingen und Liederblasen zum Jahresende in Eberbach – Posaunenchor erschallte vom Kirchturm
Zeichnung von Hanna Breidinger-Spohr: Weihnachtssingen in der Pfarrgasse.
Dezember 2015
Von Rainer Hofmeyer
Dereinst hoch vom Turme, heute eher ebenerdig. Blies bis vor Jahren der Evangelische Posaunenchor am Abend vor dem Ersten Advent noch vom hohen Geländer der Michaelskirche, begleitet er heute drunten am Boden zahlreiche Weihnachtsveranstaltungen auf den Eberbacher Plätzen. Aber es gibt das Bläserensemble immer noch. Einige aktiven Mitglieder sind schon weit über 80. Weil für sie der abendliche Aufstieg über die steilen Treppen im Kirchturm doch zu gefährlich ist, hat man vor wenigen Jahren den neueren Eberbacher Usus des Turmblasens zum Advent eingestellt. So ist es manchem Eberbacher Weihnachts- und Neujahrsbrauch ergangen. Eigentlich gibt es heute keinen mehr. Jetzt feiert man kleine Weihnachtsmärkte und Christbaumverkäufe aus wohltätigem Anlass.
Hinweise auf feierliche Umtriebe und Gesänge in Eberbach zur Weihnachts- und Neujahrzeit
gehen bis in die Zeit der Reformation
zurück. Die Stadt gehörte zur Kurpfalz.
Als Kurfürst Ottheinrich
in seinen Regierungsjahren (1556-1559) in der Gegend den lutherischen Glauben
durchsetzte, erließ er gleich eine „Ordnung über das Singen an hohen Feiertagen, bei Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen“.
Oskar Kilian, Schriftleiter des Eberbacher Geschichtsblattes in den 1960er-Jahren, stellte fest: Eberbach war der einzige Ort in der rechtsrheinischen Pfalz, in dem der vom Kurfürsten angeordnete Brauch durch vier Jahrhunderte hindurch lebendig geblieben ist.
Die Stadtgeschichte berichtet somit von dereinst regem Gesangstreiben, in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Knaben waren im Stadtgebiet unterwegs. Laufchöre - Kurrende genannt.
An allen Ecken und Enden wurde gesungen und gespielt. Es waren kirchliche Weihnachtslieder. Anfangs nur vorreformatorische oder solche aus der Zeit der Reformation. „Zu Bethlehem geboren“, „Abermals ein Jahr verflossen!“ Als es ab 1688 wieder eine katholische Kirchengemeinde in Eberbach gab, griff man auch zu einem anderen Gesangbuch.
Die ältesten urkundlichen Belege über die laufenden Knabenchöre in Eberbach finden sich im Generallandesarchiv in Karlsruhe. In Schulakten von 1792 wird der Brauch beschrieben:
„17 bis 18 Knaben“ werden „ernannt“, die die „Gesänge verrichten sollen“. Angeführt und geleitet wurden die Chöre meist von ihren Lehrern. Ein ausgeklügelter Einsatzplan sorgte für weihnachtliche Stimmung an allen Orten in der Stadt und quasi zu jeder Zeit.
Los ging es morgens um 9 Uhr beim Rathaus und dem Pfarramt. Pfarrer und Stadtobere bekamen eine besondere Darbietung. Abends um 11 zog der Sängerchor durch die Straßen und über die Plätze der Stadt. Am nächsten Tag um 6 sang man zum Weck-Essen auf dem Marktplatz. Um 11 freuten sich die Bewohner des Gässels über die Weihnachtslieder, eine Stunde später war der Chor im Mühlgrund.
Am Ende ging es nicht nur um die Erbauung der Zuhörer und die Ehre der Teilnehmer. Wichtig war, dass auch Geld auf die Sänger flog.
Schon 1757 finden sich in städtischen Gemeinderechnungen verschiedene Quittungen, in denen hier amtierende Schulmeister den Empfang von „gewöhnlichem Gesangsgeld“ bestätigen: „3 Gulden, 30 Kreuzer“. Es gab Lehrer, die hatten besonders gestaltete Rockärmel, um die zugeworfenen Münzen mündelsicher aufzufangen. Angeblich wurde hinterher das Geld zu gleichen Teilen auf Schüler und Klassenvorstand umgelegt.
„Bettelgesang“
nannte man das, was Knaben und Lehrer in der Stadt umtrieb. Für die kirchliche und amtliche Seite ein Missbrauch der Bräuche. Die Kirchensektion des badischen Innenministeriums machte schließlich 1834 dieser „Unsitte“ ein Ende. Zu Weihnachten und Neujahr gab es also kein Bares mehr für die Sängerknaben und ihre Lehrer. Offenbar verprellt von solcher Regelung, stellte man das Singen nach dem Verbot des Geld-Kassierens gleich ganz ein.
Der Eberbacher Knabenchor
holte sich fortan sein Scherflein bei Beerdigungen.
Dort war das Erheben einer Sangesgebühr
noch erlaubt - sogar per Vorkasse. Die Schüler bekamen unterrichtsfrei für ihren Grabgesang. Das gefiel wiederum dem Ortsschulrat nicht. Also wurden die Beerdigungen eigens auf die schulfreien Tagesstunden
verlegt. In der Bevölkerung machte man sich 1835 noch einmal stark für das Singen. Das Großherzogliche Bezirksamt war nicht zu erweichen, das „Ostern- und Weihnachtssingen“ blieb verboten. Es wurde sogar eine Belehrung und Ermahnung der Gemeinde „von der Kanzel“ verlangt. Im März 1869 wurde auch das Beerdigungssingen untersagt.
Es wird immer wieder von „Eberbacher“ Weihnachts- und Neujahrsliedern berichtet. Es gab jedoch weder eigene Eberbacher Melodien noch besondere heimische Texte.
Was für den Eberbacher Brauch eigentümlich war: Melodische „Schnörkel“, die man an der einen oder anderen Stelle im Lied anhängte und mit denen man recht virtuos so manche Strophe verband. An genau solchem Schnörkelgesang
versuchten sich in den jüngeren Jahren die Sänger des Liederkranzes, die nach 1874 jeweils am ersten Weihnachtstag in der „Krone-Post“ und im „Leininger Hof“ - heute Standort des Rathauses - über Jahrzehnte noch die Kirchenlieder darbrachten. Die Namen von „Schnörkel“-Sängern
der jüngeren Zeit sind heute noch in den Annalen des Liederkranzes festgehalten: Julius Sigmund, Conrad Spohr, Heinrich Strohauer, Dr. Otto Müller und Peter Schupp.
Im Ersten Weltkrieg
gab es keine Sangespause. Unvergesslich blieb das Weihnachtsfest 1916.
Und das im letzten Kriegsjahr 1918, als der Waffengang zu Ende war. In der Krone-Post lauschte eine übergroße Zahl heimgekehrter Soldaten der überlieferten „deutschen Innigkeit“. Viele Männer reihten sich in den Chor der Weihnachtssänger ein. „Trostvoll die Texte, ergreifend die Weisen“, so ist das Ereignis festgehalten.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg
wachte der Brauch des Weihnachtssingens auf den Straßen nur kurz
auf. Der eine oder andere ältere Eberbacher erinnert sich daran, wie er als junger Schulbub 1946 und 1947
mit dem damaligen evangelischen Kantor Heidecker in den Gassen unterwegs war. Am Alten Markt, am Lindenplatz, beim Wirtshaus Krabbenstein. 12 bis 15 Knaben waren sie. Lange währte die kindliche Karriere allerdings nicht. Die jungen Sänger kamen alsbald in den Stimmbruch. Der Liederkranz sang die Eberbacher Schnörkel-Lieder bis 1995
noch zu Weihnachten in der Krone-Post, später noch ein paar Mal auf dem Alten Markt.
Der 1948 gegründete Evangelische Posaunenchor
ließ alsbald einen neuen Brauch entstehen und am Vorabend des Ersten Advents Kirchenlieder vom Turm der Michaelskirche
schallen. Über Jahrzehnte hinweg hörte man die Bläser nach dem Sechs-Uhr-Läuten vom Turm. Ab 1977 war es Günter Lipski, der mit gemischten Schülerchören von über 40 Teilnehmern vor dem Christfest durch Eberbachs Straßen zog und für rund zehn Jahre ein Liedersingen veranstaltete.
Seither ist weihnachtliche Stille auf den Eberbacher Straßen - zumindest, was Musik und Gesang angeht.