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Schutzhäftlinge im Dritten Reich

Der heimischen Geschichte in Berlin begegnet

Realschüler finden zufällig Eberbacher Foto aus der NS-Zeit in der "Topographie des Terrors"

Aufgenommen um 1934. Blick in die Bussemerstraße.

Mai 2015
Von Rainer Hofmeyer

Eberbach/Berlin. Manchmal kann es vorkommen, dass man der Geschichte der eigenen Heimat fernab irgendwo unverhofft begegnet. Und wenn es dann ausgerechnet noch ein unrühmlicher Teil der deutschen Vergangenheit ist, für den die Vaterstadt ein signifikantes Beispiel abgibt, dann kann das die nachwachsende Generation schon sehr bewegen. Solches ist dieser Tage der Abschlussklasse der Eberbacher Realschule in Berlin passiert. Die 18 Zehntklässler sahen sich während einer Klassenfahrt in der Ausstellung in der „Topographie des Terrors“ mit einem Schwarz-Weiß-Foto aus 1933/1934 konfrontiert, das den „Abtransport von Schutzhäftlingen aus dem Polizeigefängnis Eberbach am Neckar“ zeigt. 

Das große Ausstellungsbild präsentiert das alte Eberbacher Gefängnis an der Ecke Friedrichstraße/Bussemerstraße, als Gefangene abgeholt werden, die einen ungewissen Weg ins eigene Schicksal antreten. Von keinem der abgebildeten Schutzhäftlinge wissen wir heute. Wer es gewesen sein mag, der da verschubt wird, und wohin es ging, ist nicht überliefert, zumal das genaue Datum der Aufnahme nicht ganz sicher ist. Jüdische Mitbürger waren es allemal nicht. Der geschlossene Abtransport der Eberbacher Juden fand erst 1940 statt. Sie wurden vor dem Rathaus am Alten Markt zusammengetrieben, ins französische Gurs verschleppt und endeten schließlich in Vernichtungslagern. 

Eher waren es 1933/1934 „missliebige Personen“ aus Eberbach und der Umgebung, die beim ursprünglich als badisches Bezirksgefängnis errichteten Bau abgeholt wurden - vielleicht Sozialdemokraten, Kommunisten, Angehörige der Ernsten Bibelforscher, heute Zeugen Jehovas, oder einfach nur Leute, die den Nazis nicht passten. Sie fanden sich am Ende meist in Konzentrationslagern wieder. Eine richterliche Haftanordnung oder Überprüfung gab es nicht. „Schutzhaft“ wurde willkürlich verhängt, anfänglich durch SA oder SS, später vornehmlich durch die Geheime Staatspolizei. Die Haftverfügung wurde auf einem vorgedruckten hellroten Formular ausgefertigt, wegen „Gefährdung von Bestand und Sicherheit von Volk und Staat“.

Schutzhäftlinge waren im Grunde rechtlos. Alle Freiheitsrechte, die in der Weimarer Reichsverfassung verbrieft gewesen waren, wurden nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 „bis auf weiteres” durch Verordnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Zusammen mit dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933, das ausgerechnet von der demokratisch gewählten Reichstagsmehrheit verabschiedet worden ist, wurden die Grundlagen für die Auflösung der Demokratie und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur gelegt. Die Gewaltenteilung mit unabhängigen Gerichten wurde eliminiert. Parteikader entschieden fortan über die persönliche Freiheit und das Leben der Menschen. 

Eberbach hat durchaus mitbekommen, was in der NS-Diktatur geschehen ist. Das Bild von der Ecke beim alten Gefängnis beweist es heute. Das offenbar aus dem Hause der einstmaligen Kunstgewerbehandlung Mack und Cie. (heute Uhren-Optik Schwandl) vom ersten Obergeschoss heimlich aufgenommene Foto zeigt viele Zuschauer in der Friedrichstraße und der Bussemerstraße. Sie recken hinter den Absperrungen der Eberbacher SA und der örtlichen Polizei neugierig die Hälse in Richtung Gefängnishof. Selbst Kinder dürfen zuschauen, wie die Leute weggebracht werden. Der Mannschaftswagen, zu dem man die Häftlinge führt, ist laut Zulassungskennzeichen ein Fahrzeug aus der badischen Region. Neben der uniformierten SA sind auch Eberbacher Polizisten zu sehen. 

„Vor aller Augen“ - unter diesem Ausstellungsthema kam das beredte Eberbacher Bild vom Stadtarchiv in die Berliner „Topographie des Terrors“. Auf dem Gelände dieses zeitgeschichtlichen Museums befanden sich von 1933 bis 1945 die wichtigsten Zentralen des nationalsozialistischen Terrors: das Geheime Staatspolizeiamt Gestapo mit eigenem Gefängnis, die Reichsführung-SS, der Sicherheitsdienst SD der SS und während des Zweiten Weltkriegs auch das Reichssicherheitshauptamt. So erklärt sich der Name „Topographie“.

Die Schau „Vor aller Augen“ wurde bereits 2002/2003 im Außenbereich der Topographie des Terrors gezeigt und ist heute eine Wanderausstellung. Dokumentiert werden soll mit dem Konzept, dass die Bevölkerung mitbekommen hat, was im Dritten Reich geschah. Nach einer Rundfrage des Kurators im Rahmen eines Forschungs- und Ausstellungsprojekts bei rund 1000 deutschen Archiven fand Eberbachs Stadtarchivar Dr. Rüdiger Lenz im Jahr 1999 das treffende Foto und schickte es nach Berlin. 

In der heutigen Ausstellung findet sich das Eberbacher Bild unter dem neuen Thema „Terror in der Provinz“ wieder, im letzten Jahr gesehen von 1,3 Millionen Zuschauern aus aller Welt. So ganz als einfache Provinz sah sich Eberbach im Dritten Reich aber nicht. Die braune Partei feierte die Stadt immerhin als „Hochburg der Nationalsozialistischen Bewegung im Odenwald“. 

Als die Eberbacher Realschüler aus der Klasse 10 A jetzt mit ihrem Klassenlehrer Joachim Metz (36) ihre einwöchige Abschlussfahrt zur Mittleren Reife in die Bundeshauptstadt machten, da stand neben Reichstag, Checkpoint Charly und „Story of Berlin“ mit Luftschutzkeller auch ein Besuch in der „Topographie des Terrors“ an. Dort ausgerechnet ihr kleines Eberbach wiederzufinden, war Überraschung und Erschrecken zugleich, wie Gemeinschaftskundelehrer Metz und eine Schülerin (16) dieser Zeitung übereinstimmend berichteten.

Info. Stiftung Topographie des Terrors, Niederkirchnerstraße 8, 10963 Berlin, Tel. 030 254509-0. www.topographie.de - Bildquelle: Stadtarchiv




Repro: Rainer Hofmeyer
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