Ein Walzer mit dem Bürgermeister Die erste Flüchtlingsfrau in Eberbach Marguerite Dyballa erinnert sich
Marguertie Dyballa - Eine Flüchtlingsfrau - keine "Vertriebene".
Juni 2016
Von Rainer Hofmeyer
„Ich gehe keinen Schritt mehr weiter.“ - Marguerite Dyballa konnte nicht mehr, ihre Füße waren blutig. Das letzte Stück ihrer Flucht aus dem Reichsgau Sudetenland hatte sie über Karlsbad und Nürnberg nach Mosbach verschlagen. Als dort ein Metzgerauto mit Schlachtvieh vorbeikam, durfte sie aufsteigen. Es ging nach Eberbach. Das war der einzige Weg, den die 19-Jährige auf Hunderten Kilometern nicht zu Fuß marschieren musste. Die Flucht war in Eberbach zu Ende.
Die Stadt war schon seit Ende März von den Amerikanern besetzt.
Jetzt stand Marguerite Dyballa am 28. Mai 1945
auf dem Neuen Markt und hatte nichts mehr als ihr Leben. Ihr Mann Anton war zu Kriegsende als Soldat in Berlin eingeschlossen, kam dann in Gefangenschaft. Marguerite Dyballas Status war „Flüchtling“.
Als sich die Angestellte der Kriminalpolizei am 1. Mai 1945 im mährisch-schlesischen Troppau aufgemacht
hatte, rückten schon die Russen
heran. Ein amerikanischer GI
hatte die junge Frau zwar später bei Karlsbad aufgegriffen, ließ sie aber wieder laufen: „Hau ab, Baby“.
Im Wirtshaus „Hirsch“ am Neuen Markt löffelte Marguerite Dyballa an jenem 28. Mai 1945 erst einmal eine Erbsensuppe. Gleich gegenüber stand das Arbeitsamt. „Arbeit haben wir keine“.
Doch Marguerite Dyballa hatte Glück. Bei Friseur Kraft in der Kellereistraße
fand sie für zwei Jahre eine Anstellung im Haushalt. Sie lernte dort drei Generationen der beliebten Eberbacher Familie kennen. Vom damals Jüngsten, Peter Kraft, hat sie noch heute ein Kinderbild in ihrem Karton der Erinnerungen.
Das Dritte Reich war im Mai 1945 noch nicht durch die Sieger aufgeteilt.
Die „Heimatvertriebenen“ kamen erst später
in Eberbach an. Marguerite Dyballa, erste „Flüchtlingsfrau“ in der Stadt,
erfuhr eine Solidarität der Eberbacher, an die sich die heute 90-Jährige noch in Dankbarkeit erinnert. Die Bäckersfrau in der Hauptstraße hat ihr „so manchen Laib Brot zugesteckt“. Bis die Bäckerei
schloss, hat Marguerite Dyballa nur dort eingekauft. Genauso wie in einem Schuhladen,
der für die ersten richtigen Schuhe nach der Flucht sorgte - Marke Salamander, auf Bezugsschein.
Zwei Jahre nach der Ankunft in Eberbach fanden Marguerite und ihr Mann Anton Dyballa wieder zusammen.
Jemand hatte zufällig den Namen Dyballa in einer Zeitung gelesen
und so zum Aufenthaltsort des Kriegsheimkehrers
geführt. Anton Dyballa war schwer kriegsversehrt. Im BBC-Werk in der Steige gab es schließlich Arbeit für ihn. Ältere Eberbacher erinnern sich: Anton Dyballa war jahrelang im Vorstand des Ortsverbandes des VdK
- des Verbandes der Kriegsbeschädigten, 1950 gegründet. Auch war er aktiv im Kolpingwerk.
In der Landsmannschaft der Schlesier
trafen Anton und Marguerite Dyballa viele, die das Schicksal von Flucht und Vertreibung teilten. Freundschaften mit anderen Frauen hielten von der ersten Zeit bis zum Tode. „Alle Alten sind gestorben“ - Marguerite Dyballa gehört damit zu den wenigen, die noch unmittelbar vom Nachkriegsgeschehen in Eberbach berichten können. Als Anton Dyballa 1996 starb, haben sich gleich zwei Seniorenkreise seiner Witwe Marguerite angenommen. Dort ist sie immer noch aktiv dabei.
Jeden Tag liest Marguerite Dyballa die Zeitung ihrer neuen Heimat Eberbach. Von ihrer alten Heimat hütet sie noch einige wenige Fotografien. Marguerite Dyballas Geist ist hellwach.
So kann sie sich auch noch gut an einen der Höhepunkte ihrer ersten Zeit in Eberbach erinnern: Auf einer Weihnachtsfeier der Schlesier im Café Reichspost tanzte sie einen Walzer mit dem damaligen Bürgermeister Kurt Nenninger.