Vor 70 Jahren, am 3. Juni 1946: „Die ersten Flüchtlinge sind da“ - Fast 2 000 Heimatvertriebene fanden danach in Eberbach ein neues Zuhause
Die Häuser der Neuen Heimat am Ledigsberg.
1. Juni 2016
Von Rainer Hofmeyer
Vor 70 Jahren, am 3. Juni 1946, ruft der Eberbacher Bürgermeister zur Solidarität mit den Heimatvertriebenen auf - Insbesondere Steige und Ledigsberg wurden zur Neuen Heimat „Die ersten Flüchtlinge sind da. Ein großer Teil jedoch ist noch zu erwarten. Die gesammelten Mittel reichen bei weitem nicht auf.“ Ein letzter Aufruf zur Hilfeleistung an die Bevölkerung der Stadt Eberbach. Unterschrieben vom damaligen Bürgermeister Kurt Nenninger. Veröffentlicht am 3. Juni 1946, also jetzt vor 70 Jahren. Es fehlte das „Notdürftigste“ - Geld, Wäsche, Kleidung, Hausrat und Möbel. Eine „Notgemeinschaft der Stadt Eberbach“ sammelte für die Ankömmlinge. Die Initiatoren waren die Stadtgemeinde, beide christlichen Konfessionen, die Gewerkschaft, das Rote Kreuz.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges
hatte die Stadt Eberbach 7 719 Einwohner.
Während des Krieges wuchs die Zahl auf rund 9 000 - Evakuierte aus den Großstädten, Fremdarbeiter, allgemeiner Zuzug. Mehr Wohnraum gab es deswegen nicht. In den letzten Kriegswochen wurden sogar fast 200 Wohneinheiten bei Bombenangriffen zerstört. Die Amerikaner beschlagnahmten als Besatzer zudem teilweise noch bis zu 200 Häuser. In Eberbach herrschte 1946 also Wohnungsnot. 11 227 Menschen
brauchten in jenem Jahr eine Bleibe, noch nicht zurückgekehrte Soldaten eingerechnet. Eberbach war gegenüber dem Kriegsbeginn um rund 45 Prozent gewachsen.
Es gab Notunterkünfte.
Die damals „neue Turnhalle“
an der Neckarbrücke wurde als Auffanglager
hergerichtet. Das Barackenlager der Firma BBC,
zuvor für Kriegsgefangene, wurde requiriert.
In der stillgelegten Rosshaarspinnerei Mayer in Wimmersbach kamen Zugezogene unter. Gasthäuser, Hotels räumten sogar ihre Nebenzimmer. Spannungen gab es zwischen Alteingesessenen und den Neubürgern, denn es wurden Wohnräume beschlagnahmt.
Ältere Eberbacher erinnern sich noch, dass bei ihnen Flüchtlinge zwangsweise einquartiert wurden. Als Deutsche
waren die Ankömmlinge mit dem Zuzug automatisch Eberbacher Bürger.
Diese neuen Eberbacher sollten recht schnell in die Administration der eigenen Angelegenheiten eingebunden werden. Ein Ausschuss für Heimatvertriebene wurde eingerichtet. Ein Flüchtling kam in den Dienst der Stadtverwaltung. Eine Wohnungskommission
sollte die Verteilung der Wohnstätten
regeln. Der Gemeinderat verweigerte jedoch die Berufung eines Vertriebenen in dieses Gremium. Erst nach der Gemeinderatswahl im Dezember 1947
wurde ein Heimatvertriebener
in die Wohnungskommission gewählt, als Vorsitzender. Er gehörte einer Partei an, deren Name seit 1961 wieder deutsche Geschichte ist: Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten - BHE.
Stadtverwaltung und Gemeinderat beließen es nicht lange bei provisorischen Maßnahmen. Eberbach brauchte rasch neue Wohnungen.
Und es ging sogar um freies Ackerland. Schließlich sollten die aus ihrer Heimat Ausgewiesenen recht schnell für sich selbst aufkommen können. Noch im Sommer 1946
wurde ihnen die städtische Waldgemarkung am Ledigsberg als landwirtschaftliche Anbaufläche überlassen.
Die Bäume dort wurden gerodet. Das Land wurde
dann im Verhältnis 80 zu 20 Heimatvertriebenen und Alteingesessenen für drei Jahre pachtfrei zur Verfügung gestellt.
Die ersten Wohnungen
für die neuen Eberbacher entstanden jedoch in der Steige.
Hier baute die Oberrheinische Siedlungsgesellschaft
einige Häuser
und große Wohnblocks.
Die Währungsreform im Juni 1948 gab einen zusätzlichen Schub für die baulichen Tätigkeiten. Jetzt stiegen das Evangelische Hilfswerk und die katholische Siedlungsgemeinschaft Neue Heimat Mosbach mit ein. 1949 kam die gemeinnützige Eberbacher Baugenossenschaft
hinzu.
Auch „über Neckar“, am Ledigsberg,
ging es jetzt ans Bauen. Dort hatte Eberbach ja genügend freie Fläche. Die bereits unmittelbar nach dem Krieg zum Ackerland gerodeten Grundstücke wurden in Bauland umgewidmet. 19 Siedlungshäuser wurden unter Leitung der Oberrheinischen Siedlungsgesellschaft
errichtet. Sie glichen sich, eines dem anderen. Die künftigen Bewohner legten selbst Hand an, minimierten dadurch den eigenen finanziellen Aufwand. Der Gemeinderat entschied großzügig über eine Ausfallbürgschaft für das gesamte Vorhaben. Für damals stolze 42 000 Mark stand die Stadt gerade. 1950 wurde dem Evangelischen Hilfswerk
und der Neuen Heimat
weiteres Gelände am Ledigsberg zur Verfügung gestellt. Auch in der König-Heinrich-Straße zogen Vertriebene ein.
Die Verantwortlichen der Stadt waren bestrebt, bei der Vergabe der Bauplätze ein gutes zahlenmäßiges Verhältnis zwischen den neuen und den alten Eberbachern herzustellen. Die angestrebte Aufteilung schwankte am Ledigsberg in einzelnen Bauabschnitten zwischen 50 zu 50 und 70 zu 30 zugunsten der Neubürger. Im Ergebnis bleibt die Siedlung am Ledigsberg das am stärksten von den Vertriebenen eingenommene Quartier.
Was sich so mancher Anlieger an einer neuen Straße heute wünschen würde: Die Stadt übernahm die Kosten
für die Erschließung der neuen Siedlungsgebiete, den Bau der Straßen und Gehwege, den Anschluss von Wasser und Strom. Die Arbeiten für Wasser und Strom betrugen an allen Straßen zusammen 36800 Mark. Die Stadt zahlte alles.
Für die Siedlung auf der linken Neckarseite hatte sich im Volksmund bald der Begriff „Neue Heimat“ eingebürgert. 1957 waren die meisten Bauten mit den Siedlern abgerechnet, auch wenn noch einige Darlehen offen waren. In der Bauabrechnung wurden Tausende „Männerstunden“ und „Frauenstunden“ als Eigenleistung auf den Preis gutgeschrieben. Die Umsatzsteuer wurde rückvergütet. Das Finanzamt erkannte die Bauten als entsprechend begünstigte „Kleinsiedlung“ an.
Den Vertriebenen folgten von Anfang an Straßennamen mit Bezügen zu ihrer Heimat. 13 Straßen in Eberbach
wurden nach Orten, Gebieten und Persönlichkeiten aus dem Osten benannt.
Königsberger Straße, Memelstraße, Tilsiter Straße, Danziger Straße, Graudenzer Weg, zum Beispiel. Die Namen der beiden schlesischen Dichter Freiherr von Eichendorff und Gerhart Hauptmann wurden auf Eberbacher Straßenschilder geschrieben.
Nicht immer war alles eitel Harmonie und Entgegenkommen. Der Eberbacher Gemeinderat blockierte den Wunsch der Vertriebenen, alle Straßen in ihren Siedlungsgebieten nach ihrer Heimat zu benennen. Traurig waren die Vertriebenen aus dem Sudetenland.
Obwohl die Sudentendeutschen mit 768 Zugezogenen den größten Teil
der Neu-Eberbacher stellten, bekamen sie nur den Namen Adalbert-Stifter-Straße zugestanden. Dafür war es wenigstens eine der Wege im größten Siedlungsgebiet - die obere Zeile. Bei der unteren Straße beließen es die Stadtväter konsequent beim Althergebrachten: „Am Ledigsberg“. Gleich daneben wurden bewusst Straßennamen für Dichter vergeben, die keinen Bezug zu verlassenen Gebieten hatten.
Die lediglich 80 Ostpreußen
freuten sich über immerhin fünf Straßennamen,
die 61 Westpreußen über zwei.
Die 449 Ungarn-Deutschen und die 227 aus Jugoslawien konnten sich überhaupt nicht durchsetzen.
Probleme der Integration gab es auch damals, ohne sie zum eigenen Thema zu machen. In den Anfangsjahren des Zusammenlebens zeigten sich Spannungen und Reibereien. Hauptursache war das allgemeine Wohnungs- und Versorgungsproblem. Das besserte sich mit dem aufkommenden Wirtschaftswunder. Viele Heimatvertriebene gingen in Berufe, die sie schon vor der Umsiedlung hatten.
Wer zu Hause in der Landwirtschaft beschäftigt war, suchte Anstellung in der Industrie oder in der Forstwirtschaft. Selbstständige gründeten in Eberbachs Innenstadt eigene Geschäfte. Die später weltbekannte Bootswerft Empacher, 1929 in Königsberg gegründet, erstand 1947 auf dem Gelände des alten Bootsbaubetriebes Ludwig Seibert neu.
Bis 1969 führte das Eberbacher Standesamt noch eine getrennte Liste
für Eheschließungen,
separiert in Alt- und Neubürger und „gemischte“ Ehen. Am Anfang 1952 heirateten noch je 66 Alt-Eberbacher unter sich, die gleiche Zahl Neubürger ging die Ehe innerhalb ihrer Volksgruppen ein. 17-mal vermählten sich zu Beginn der Zählung die Ureinwohner mit den Zugezogenen. Als die Liste 1969 schlossen
wurde, war die Zahl der Hochzeiten nur unter zugezogenen Einwohnern auf 3 gesunken. Erneut 17-mal kamen Eberbacher und Neubürger zusammen.
Heute weiß man im Standesamt, zumindest statistisch gesehen, gar nicht mehr, wer in Eberbach woher gekommen ist. Diese Integration, unter Deutschen, ist jedenfalls schon seit Jahrzehnten erfolgreich abgeschlossen.