Der Breitenstein ist eine eigene Welt. Hinter dem Scheuerberg gelegen, biegt er im Osten um den Schollerbuckel. Naturliebhaber kümmern sich schon seit Jahrzehnten um diese einzigartige Landschaft. Ehrenamtliche von Naturschutzbünden achten auf den Breitenstein. Ursprünglich war er Kulturland.
Es gibt kaum eine Gegend rund um Eberbach, um der sich so sehr Menschen bemühen, die keine finanziellen Vorteile daraus ziehen wollen. Der Breitenstein ist eine riesige Fläche, in der die Natur noch zu Hause ist. Dutzende Vogelarten werden dort gezählt, vom Mäusebussard, dem Kuckuck bis hin zum Fichtenkreuzschnabel. Vögel brüten dort, ziehen durch, sind Wintergäste oder suchen Nahrung. Viele geschützte Pflanzenarten wachsen da.
Augenblicklich ist der Breitenstein auf dem Weg zum Naturschutzgebiet. Damit wäre sein Schicksal endgültig in eine andere Richtung abgebogen als insbesondere im letzten Jahrhundert für ihn vorgesehen war.
Nach dem Krieg gab es auf dem Breitenstein einen neuen Aussiedlerhof. 1962 war Bauer Heinrich Beisel sen. mit seiner Familie aus der Neckar- und Brückenstraße hochgezogen. Mitgenommen hat der „Tauben-Beisel“ ein Pferd, neun Stück Groß- und vier Stück Kleinvieh, einige Schweine. 15 Hektar Ackerland bewirtschaftete man damals dort oben. Gerste, Hafer, Weizen, Mais und Rüben baute Beisel an. Heute ist der Aussiedlerhof zu einer Wohnstätte geworden, die Landschaft des Breitensteins so gut wie sich selbst überlassen.
Dabei kann man von Glück reden, dass am Breitenstein überhaupt noch Natur zu finden ist. Denn vor noch nicht allzu langer Zeit hätte eine Konkurrenz zwischen Eberbach und Mosbach beinahe zu einer grundlegenden Änderung geführt, wäre dort eine Satellitenstadt entstanden.
Beide Städte lagen in den 1960er-Jahren etwa gleichauf mit ihrer Einwohnerzahl bei 12 000, Eberbach mit leichtem Vorsprung. Da setzte Mosbach ein neues Siedlungsgebiet in seinen Wald: Die Waldstadt mit angepeilt 3 000 Einwohnern. Meinungsträger im Eberbacher Gemeinderat wollten es Mosbach gleichtun. Die Idee, auf dem Breitenstein ebenfalls einen neuen Stadtteil zu bauen, zog sich bis in die frühe Amtszeit von Bürgermeister Horst Schlesinger (1973 bis 1996), ehe das Projekt verworfen wurde.
Doch diese Runde der möglichen Besiedelung des Breitensteins war schon der Geschichte zweiter Teil. Zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaftszeit lagen detaillierte Überlegungen auf dem Tisch: „Dorfsiedlung auf dem Breitenstein bei Eberbach“, hieß eine „Skizze“, die der Leiter des Badischen Vermessungsamtes 1933 entwickelt hatte, der in Eberbach geborene Vermessungsrat Konrad Backfisch.
130 Hektar unbesiedelte Fläche sah Backfisch vor sich, größer als das jeweils beackerte Gebiet von Pleutersbach, Igelsbach, Lindach und Rockenau. Wegen des Höhenunterschiedes zwischen Eberbach-Stadt und Breitenstein von 130 Metern und der langen steilen Strecke dorthin sei die landwirtschaftliche Bestellung unwirtschaftlich, konstatierte der Geometer. Backfisch schlussfolgerte: Auf dem Breitenstein muss ein eigenes Bauerndorf entstehen.
Eine neue, flachere Straßenverbindung sollte angelegt werden, über die Odenwaldstraße, Alte Dielbacher Straße, die Scheuerbergstraße zum ehemaligen Knab’schen Steinbruch. Die Wasserversorgung sollte über das Netz des Winterhauches erfolgen oder über Pumpwerke aus dem Holdergrund. Für den Strom wollte man die Hochspannungsleitungen anzapfen, die den Breitenstein überspannen. Ein Dorfbach war auch schon eingeplant. Der Holderbach sollte im oberen Lauf gestaut und in sanftem Gefälle in einem gemauerten Bett herangeführt werden. Das Wasser sollte das Mühlrad eines Müllers oder Sägewerkes antreiben. Es war sogar an ein Windrad gedacht.
Das Gelände war in Streubesitz, privat und städtisch. Es sollte nach dem damaligen Feldbereinigungsgesetz umgelegt werden. Pachtäcker hätten das vorhandene Eigentum ergänzt. Bauern im Haupt- oder Nebenerwerb sollten angesiedelt werden. Ein städtisches Gut wäre an einen „tüchtigen Bauern“ verpachtet worden. Private Häuser sollten eingestreut werden. Eine „freundliche Gaststube“ sollte nicht fehlen. Neben Äckern wollte man Baumgrundstücke belassen und reine Obstbausiedlungen anlegen.
Die Feldbereinigung hätte aus der Stadtkasse bezahlt werden müssen. Die baulichen Maßnahmen könnten jedoch nur mit einer “allgemeinen Arbeitsdienstpflicht“ erledigt werden. Backfisch drohte „Glückrittern und Betrügern“, die bei dem Geschäft ihre „schmutzigen Hände“ waschen wollten, offen an, dass sie „am Galgen hangen“ würden, wo er in Eberbach früher mal gestanden habe: am Galgenweg, gleich neben dem Breitenstein.
Die neue Dorfsiedlung auf dem Breitenstein sollte sozialen Segen bringen. Durch die Bau- und Straßenarbeiten würde die „Arbeitslosigkeit von Stadt und Umgebung sofort verschwunden sein und damit ein großer Teil der Fürsorgelasten der Stadt“. Wegen der hohen Ertragsfähigkeit des neuen Gebietes würden die Siedler „allmählich mit der Abzahlung ihrer Hypotheken und der Bezahlung ihrer Pachtgelder beginnen können“, prognostiziert die Zukunftsskizze. Die Neubauern sollten eine „kaufkräftige Nachbarschaft der Stadt bilden“.
Blut-und-Boden-Parolen gab Vermessungsrat Backfisch auch von sich: „Freie Bauern auf freier Scholle“ in „sauberen Bauernhöfen“. Dort würde der alte Bauer später einmal seinem Enkel auf dem Schoß erklären, „was die tüchtigen Eberbacher Bürger fertig gebracht hätten, weil sie ihrem großen Führer Adolf Hitler gefolgt sind“. In der Frage der neuen Dorfsiedlung auf dem Breitenstein sind die Eberbacher dem „Führer“ jedenfalls nicht gefolgt. 91 Jahre später kann deshalb aus dem großen, weiten Gelände beim Schollerbuckel immer noch ein Naturschutzgebiet werden.
Info. Recherche unterstützt vom Stadtarchiv.