Rainer Hofmeyer
Es ist eine
schöne Erzählung, die den Eberbachern schon seit Alters her gefällt. Sie sind stolz darauf, denn es ist die Erzählung von guten Menschen, die sie dereinst gewesen sein müssen. Beim
früheren Rathaus am Alten Markt
vor einer dort angebrachten
Steintafel mit der Jahreszahl 1529 berichten heute noch Stadtführer von einer einst wundersamen Rettung eines Kindes aus Wassernot bei einer großen
Neckar-Überschwemmung.
Es ist wie die Geschichte aus dem Alten Testament, als man den kleinen
Moses im Schilfkorb
auf dem Nil gefunden hat. Es ist die Erzählung vom Eberbacher Tormann. Sie beginnt, als im Juni 1529
das bislang älteste überlieferte und vierthöchste Hochwasser die kleine Neckarstadt heimsuchte. Tormann ist ein Familienname, den man noch heute in den Eberbacher Archiven finden soll, sagt man.
1529 hatte Eberbach noch ein Stadttor zum Neckar. Es müssen wohl aufmerksame Wächter gewesen sein, die dort auf dem reißenden Fluss eine
Kinderwiege abwärtstreibend
entdeckt haben. Die Späher haben auch eine Katze
beobachtet, die das kleine Bettchen im Gleichgewicht hielt, sodass es nicht unterging. So ist es überliefert. Was die mutigen Eberbacher dann bewegt hat, die Wiege aus dem Fluss zu bergen, kann vielleicht Tierliebe gewesen sein. Denn die eigentliche Überraschung wird man von der Stadtseite her gar nicht ausgemacht haben können.
Vielleicht ist die Schaukel aber auch am Neckarufer gestrandet. Sei’s drum, was wo und wie vor fast 500 Jahren den Ausschlag gegeben hat, neugierig in das Bettchen zu gucken:
Man fand einen kleinen Jungen darin, und er lebte.
Alle Nachforschungen nach seiner Herkunft sind damals ergebnislos verlaufen. Irgendjemand muss sich dann seiner angenommen haben. Weil man nicht wusste, wer der Junge war, bekam er den Namen
Tormann - plausibel wegen der Stelle seiner Rettung, beim Neckartor.
Tormann, sein Vorname ist nicht bekannt, scheint in der Stadt Fuß gefasst zu haben. Es wird behauptet, es habe
mehrere Generationen der Familie Tormann in Eberbach gegeben, bis diese wohl irgendwann weggezogen ist oder ausstarb. Heute findet ja man den Namen Tormann nicht mehr unter den Einwohnern.
Eine schöne, fast schon
tränenrührige Geschichte vom Kind in der Krippe. Wenn sie denn stimmen würde. Denn den Namen Tormann findet man
nirgends in den Eberbacher Archiven. Die Suche nach der Wahrheit beginnt beim historischen Einwohnerverzeichnis im Stadtarchiv.
Kein Tormann, an keiner Stelle. Und kirchliche Verzeichnisse beginnen erst später, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. In genealogischen Übersichten zu Eberbacher Familien gibt es den Tormann auch nicht. Dieser Teil der wundersamen Geschichte von 1529 ist also nicht belegbar.
Weiter geht die Spurensuche beim
Sandsteinbild am alten Rathaus. Es zeigt einen Engel mit einem heute leeren Spruchband und die Jahreszahl 1529, als es das erwähnte Hochwasser gab. Die Tafel hing am Neckartor, bis dieses 1812 abgerissen wurde. Ab 1823 hatte das Relief seinen Platz am neuen Rathaus. Das Bild ist mehr als nur eine
Hochwassermarke,
die üblicherweise die Höhe eines Pegelstandes mit einem Strich anzeigt. Vielleicht ist die Figur ein Schutzengel.
1970 hat eine Historikerin
das Steinbild in einem Buch über „Inschriften der Stadt und des Landkreises Heidelberg“ beschrieben. Einen eingehauenen Text auf dem Band unter dem Engel konnte sie nicht feststellen. Damals war die Fläche noch dick weiß übermalt. Die Verfasserin spekuliert, dass ursprünglich von der Rettung eines beim Hochwasser verunglückten Menschen geschrieben war, ohne es zu belegen.
Bleibt noch die Recherche im Stadtarchiv, ob es zum Steinrelief
Aufträge oder Stadtrechnungen um das Jahr 1529 gibt, die seinen Sinn erklären könnten. Immerhin reichen die Bestände des Eberbacher Archivs bis 1346 zurück. Doch finden sich auch hier keine Unterlagen, berichtet der Eberbacher Stadtarchivar. Der frühere Eberbacher
Bürgermeister Dr. John Gustav Weiss hat in seiner Stadtgeschichte von 1900 nichts von der Bergung einer Wiege aus dem Neckarhochwasser geschrieben. Die Skizze des Sternbildes hat er nur als „Hochwassermarke“
veröffentlicht.
Bleibt also die
Enttäuschung, dass die Erzählung vom Kind in der Krippe auf dem Neckar nicht durch Schriften und anderen Quellen aus der Vergangenheit belegt werden kann. Der
Ursprung der Schilderung
von den guten Eberbachern und dem Kind in der Krippe findet sich in der „Geschichte und Beschreibung der Stadt Eberbach am Neckar“ von Pfarrer Hermann Wirth aus Haßmersheim von 1864. Dort wird von der Rettung eines kleinen Kindes beim Hochwasser 1529 geschrieben.
Von einem Tormann ist nicht die Rede.
Und der gute Pfarrer Wirth notiert auch ausdrücklich, dass es sich um eine
Sage
handelt, also eine mündlich überlieferte Erzählung von Ereignissen, die die Wirklichkeit übersteigen.