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Tragisches Ereignis im April 1944

Wurde 1944 in Eberbach ein gezielter Todesschuss vertuscht?

Im April jenes Kriegsjahres hat ein Gendarmeriebeamter beim Breitenstein einen Deserteur „auf der Flucht erschossen“ - Umstände widersprechen Notwehr – Zwei Tote beim Einsatz
DAn dieser Stelle wurde der Obergefreite am 29. April 1944 erschossen, weiß ein Augenzeuge von damals zu berichten. Skizzenvorlage. Hans Klinge, Eberbacher Geschichtsblatt 2002.

November 2021
Von Rainer Hofmeyeer

Helmut Joho (88) kann sich heute noch an Einzelheiten vom 29. April 1944 erinnern. Er war elf Jahre alt, als er bei seinem Elternhaus in der Neckarhälde sah, wie ein Mann auf der Landstraße neckaraufwärts Richtung Lindach rannte, gejagt von mehreren Gendarmeriebeamten. Neugierig begleitete Helmut Joho das Geschehen. Noch vor dem Bahnwärterhaus ging es oberhalb der Bahnlinie den Galgenweg hoch Richtung Breitenstein.

Die Verfolgungsjagd fand kein gutes Ende. Joho hörte einen Schuss. Dann sah er einen Toten auf dem Boden liegen, in einer dicht bewachsenen Mulde. „Das Blut floss aus der Schläfe“. Ein Gendarmeriebeamter hatte den Mann erschossen. Der Getötete war kurze Zeit zuvor aus dem Eberbacher Gefängnis geflohen. Er hatte selbst eine scharfe Waffe dabei und auf seiner Flucht durch die Stadt damit geschossen.

Der Gejagte suchte zuletzt in einer Bodensenke am Hang Deckung. Er konnte von dort das abschüssige Gelände kontrollieren. Laut Johos Beobachtung hatte der Polizist jedoch den am Boden Kauernden seitlich umgangen, sich von oben angepirscht und ihn dann niedergestreckt. Der Getötete hatte wohl keine Chance gehabt, sich zu ergeben. Von Amts wegen wurde später jedoch eine eindeutige Notwehrsituation dargestellt, Auge in Auge. Gegen eine solche Konfrontation sprach allerdings der Einschuss am seitlichen Kopf.

Der Polizist hatte seine eigene Version: "Plötzlich tauchte er aus einer Versenkung wieder auf, er war in Kniestellung und hielt die Pistole im Anschlag auf mich. Ich befand mich in einer Entfernung von etwa 2 Meter, er schoß und ich schoß. Er verfehlte mich, ich traf ihn in den Kopf. Er war sofort tot." Man beließ es bei der Aussage des Gendarmeriebeamten.

Was war das Leben des Erschossenen wert? Er war ein 32jähriger Obergefreiter und wurde als Deserteur gesucht, mitten im Krieg. Der mit dem Verwundetenabzeichen dekorierte Soldat hatte sich in Italien von seiner kämpfenden Wehrmachtseinheit entfernt. Er war auf der Flucht vor seiner drohenden standrechtlichen Hinrichtung gewesen. Denn nahe der Schlacht am italienischen Kloster Monte Cassino hatte er mit einem Kameraden fünf schwer verwundete US-Soldaten entdeckt und zum deutschen Verbandsplatz gebracht, um sie medizinisch versorgen zu lassen. Das wurde beiden als “Feindbegünstigung“ vorgeworfen - mit dem Tode bedroht. Beide Soldaten desertierten. Der zweite konnte sich bis Kriegsende verstecken; er hat überlebt.

Das Drama beim Breitenstein hatte am frühen Morgen seinen Lauf genommen. Da saß der Obergefreite in zivil in einem Zug der Odenwaldbahn und wollte von Darmstadt über Eberbach nach Heidelberg. Er wurde von einer Kriegsfahndungsstreife der Kriminalpolizei Darmstadt kontrolliert, war nicht im Besitz von Personalpapieren und eines Urlaubsscheines. So wurde er festgenommen und dem staatlichen badischen Gendarmerieposten Eberbach überstellt.

Ein gravierender polizeilicher Fehler: Weder unmittelbar nach dem Aufgriff im Zug noch später war der Festgenommene körperlich durchsucht worden. Seine geladene Pistole Parabellum 08 wurde nicht entdeckt. Die hatte er bei seiner Flucht von der Front mitgenommen. In Eberbach kam der Obergefreite in das Gefängnis in der Friedrichstraße. Er sollte im Laufe des Tages von der Feldgendarmerie Heidelberg abgeholt werden, der Militärpolizei. Als ihm zur Mittagszeit eine Frau im Beisein des Gendarmeriebeamten Essen auf die Zelle bringen wollte, konnte der Inhaftierte ausbrechen.

Nun gab es eine Verfolgungsjagd durch die Stadt. Nach Schilderung des späteren Todesschützen hat der Obergefreite während seiner Flucht „ständig auf ihn und wie ein Wilder um sich geschossen“. Getroffen hat er niemanden. Es waren zwei weitere Gendarmeriebeamte an der Verfolgung beteiligt. Die tauchten jedoch später nirgends in den Akten auf. Womöglich wollte man keine abweichenden Zeugenaussagen ins Verfahren einbringen. Es sollte wohl bei der für ihn selbst vorteilhaften Aussage des Schützen bleiben.

Der amtliche Bericht über Flucht und Tod war schnell zusammengestellt. Bereits einen Tag nach dem Ereignis hatte die für Eberbach zuständige Staatsanwaltschaft Mosbach ihre Version: "Bei einer körperlichen Durchsuchung des Festgenommenen durch den vernehmenden Gendarmeriebeamten gab er demselben einen Stoß und ging flüchtig. Die Verfolgung wurde von dem Beamten sofort aufgenommen. Auf der Straße gab der Obergefreite einen Schuß aus einer 08-Pistole auf den Gendarmeriebeamten ab, der hierauf das Feuer erwiderte.“

Die Aussage des Gendarmeriebeamten, der Festgenommene habe ihn im Gefängnis bei der Durchsuchung auf Waffen beiseitegestoßen, ist kaum glaubhaft. Der Obergefreite war um neun Uhr dem Gendarmerieposten übergeben worden. Warum sollte er also erst gegen Mittag im Gefängnis auf Waffen durchsucht werden? Ausgerechnet der spätere Todesschütze hatte bei der Einlieferung den Festgenommenen nicht auf Waffen visitiert und damit zum weiteren gefährlichen Geschehen beigetragen.

Ein weiterer Zeuge der Verfolgungsjagd lebt heute noch, damals ebenfalls elf Jahre alt. Mit einem Freund sah er das ganze Geschehen bereits ab der Hindenburgstraße, der heutigen Bahnhofstraße. Der Beobachter erinnert sich immer noch an Details, selbst daran, dass alles zur Mittagszeit geschah. Dem Flüchtenden stellten sich „mehrere Eberbacher Männer“ entgegen, die er jedoch beiseitestieß.

Hier wurde sogar ein Unbeteiligter getötet. Ein Kölner Medizinstudent, ausgerechnet wohnhaft in der Bussemerstraße 2, also unmittelbar neben dem Gefängnis. Er kreuzte den Fluchtweg, nach Erinnerung des zweiten Zeugen in der Hindenburgstraße, näher bei der Evangelischen Kirche. Der Student erlitt einen Bauchschuss und starb noch am Nachmittag in der Heidelberger Chirurgie. Aus welcher Waffe er getötet wurde, ist nicht dokumentiert. Alles deutet jedoch darauf hin, dass es Polizeikugeln waren. Dafür spricht auch: Beim Standesamt Heidelberg wurde beim Studenten "Tod durch Bauchschußverletzung bei Unfall" registriert, also nicht "Mord" oder "Verbrechen" durch den Deserteur.

Der Obergefreite floh an der Kirche vorbei über die Backgasse zum Ortsausgang bei der Fahrgasse, rannte mehrere hundert Meter auf der Landstraße, an der Mauer entlang bis zu einer Treppe, die den Bahndamm hochführte. Er überquerte die Gleise und nahm dann den Galgenweg. Den Toten sah dieser Zeuge kurz danach an einer Stelle liegen, die er heute noch genau beschreiben kann. „Er war in zivil, trug ein weißes Hemd und eine schwarze Hose, lag auf dem Rücken, hatte schwarze Haare.“ Auch an den Polizisten, den er aus dem Alltag kannte, erinnert sich der damalige Beobachter: „Ich habe heute noch sein Gesicht vor mir. Er war kein gebürtiger Eberbacher“.

Amtlich liest sich das Ende so: „Die Verfolgung wurde bis zur Waldgemarkung Galgen fortgesetzt, wo der Gendarmeriebeamte den Obergefreiten durch einen Kopfschuß niederlegen konnte. Der Flüchtige hatte während der ganzen Flucht 12 Schüsse auf den Gendarmeriebeamten abgegeben, ohne denselben jedoch zu treffen..."

Das Schicksal des Obergefreiten wurde als militärische Angelegenheit behandelt. Von einer Rekonstruktion der Abläufe nach der Strafprozessordnung, der Suche nach einer Hülse aus der Pistole 08 am Tatort oder einer Obduktion des Toten ist im amtlichen Bericht der Staatsanwaltschaft nichts zu lesen. Geschweige denn, dass ein Todesermittlungsverfahren durchgeführt wurde. Die Staatsanwaltschaft wurde erst gegen 16 Uhr von der Gendarmerie verständigt. Da hatte das Militärgericht Mannheim den Tatort Breitenstein und die Leiche des Obergefreiten bereits freigegeben.

1944 schien es auf eine besondere Rechtfertigung des Todesschusses gar nicht anzukommen. „Ein Soldat kann sterben, ein Deserteur muss sterben“, war damals die Linie. Im Kriegsstrafrecht stand die Todesstrafe für Desertion an erster Stelle. Doch die Polizei hatte auch im Dritten Reich ihre Regeln: „Die polizeiliche Maßnahme muss angemessen und notwendig sein.“  Und ein Polizist war auch seinerzeit kein Richter.

Vieles spricht heute dafür, dass die Geschehnisse vom 29. April 1944 im Bereich Galgenwiese von Anfang an so beschrieben wurden, dass es für den Polizisten nach Notwehr in einer Duellsituation aussah. Selbst nach dem Kriege wurde an der mutmaßlich zurechtgedrehten Aussage festgehalten.

Der Todesschütze hat seine Version der Notwehr mehrfach wiederholt, so 1949 - und 1953 sogar als „sachverständiger Zeuge“ mit einer eidesstattlichen Erklärung, als es um die Hinterbliebenenrente der Witwe ging. Der Frau des Erschossenen wurde jedwede Wiedergutmachung verwehrt. Dabei hatte ein Verwaltungsbeamter, der mit der Rentenangelegenheit der Witwe befasst war, 1953 notiert, "... daß der Gendarmeriebeamte nicht in Notwehr gehandelt, sondern den Flüchtigen in Überschreitung seiner Amtsbefugnisse niedergeschossen hat."

In den Jahren 1945 bis 1947 erhielt die Witwe des Erschossenen monatlich 79 Mark Wohlfahrtsunterstützung; 1952 hatte sich der Betrag auf 137 D-Mark erhöht. Eine Witwenrente wurde ihr jedoch stets versagt, weil ihr Mann als Deserteur "auf der Flucht erschossen" wurde, was "nicht durch unmittelbare Kriegseinwirkung entstanden" sei. 
Die nichtamtliche Version des Dramas vom Breitenstein hatte sich bald in Eberbach herumgesprochen und ist heute noch so im Umlauf, wie sich die Zeugen von damals erinnern. Nach dem Krieg hat man es bei der dienstlichen Erklärung des Gendarmeriebeamten belassen. Eine Strafanzeige der Witwe 1954 bei der Staatsanwaltschaft Heidelberg wurde nicht weiterverfolgt. Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe bestätigte die Entscheidung.

Der Tod des Deserteurs wurde in den Eberbacher Sterbebüchern nicht registriert; das war seinerzeit Sache der militärischen Dienststellen. Der Obergefreite wurde in Eberbach beerdigt, im Gräberfeld 5, Grab Nummer 7, mit der Notiz: „erschossen“; das Grab existiert heute nicht mehr. Als seine Tochter 50 Jahre später in Eberbach auf den Spuren des Ereignisses war, klingelte in ihrem Hotelzimmer das Telefon. Sie hob ab; eine männliche Stimme sagte: "Unterlassen Sie das Herumschnüffeln und gönnen Sie Ihrem Vater die Ruhe. Die Eberbacher sind anständige Leute.“

Info. Quellen: Dieter Schenk, Kriminaldirektor im Bundeskriminalamt a.D., „Das Dorf, der Deserteur und die Schande“; zeitgenössische Zeugen; Skizze: Hans Klinge, Eberbacher Geschichtsblatt 2002. Die Namen der beiden Toten sind bekannt.


Der Fluchtweg vom Gefängnis, durch die Stadt, dann Richtung Lindach auf der Landstraße, über die Gleise hoch zur Galgenwiese.


 Aus dem Gefängnis in der Friedrichstraße flüchtetet der Obergefreite.

Die badische Gendarmiere war 1944 im ehemaligen Bezirksamt untergebracht.

Eine Pistole 08 hatte die Gendarmerie beim Deserteur übersehen.

Foto/Repros: Rainer Hofmeyer
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